von Marie-Luise Heckmann (Universität Potsdam)
Die Gemeinsame Wissenschaftliche Tagung der „Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung“ (HK OWP) und der „Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens e.V.“ (CV) war dem Thema „Neue Forschungsansätze zur Geschichte des Preußenlandes“ gewidmet und fand vom 14. bis 17. Mai 2015 in Thorn (Toruń) und in Soldau (Działdowo) statt.
Möchte man ein kurzes Resümee zum Ertrag der Tagung ziehen, so kann man auf die Einleitungsworte von Sven Tode als Vorsitzendem der CV verweisen. Er hob hierbei fünf mittelfristige Forschungsvorhaben hervor: 1) Kulmer Stadtbücher – Edition, Auswertung, Interpretation; 2) Copernicus – Leben, Werk und Nachleben; 3) 500 Jahre Reformation 2017 – Kleine Städte und Landschaft in Preußen und Reformation; 4) Hundert Jahre Erster Weltkrieg – Erinnerung und Erforschung;
5) Prosopographische Studien zu den Abgeordneten aus Westpreußen 1848 bis 1945.
Diese Forschungsvorhaben der CV passten gut zu den bei der Tagung angesprochenen Trends. Hierbei ging es, wie man einleitend hervorheben kann, genauso um neue Recherchestrategien und jüngste Quellenfunde wie um elektronische Erschließung und interdisziplinäre Auswertung von Quellen aus dem ehemaligen Preußenland. Das Thema Religion und innere Befriedung wurde bei der Tagung ebenso angesprochen, wie die Aspekte Recht, Gewalt und Grenzüberschreitungen beleuchtet wurden. Das Zusammenleben von Deutschen und Polen geriet ebenfalls in den Blick, und auch die Folgen von Krieg, Völkermord und Vertreibung kamen zur Sprache. Das Aussterben der letzten Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs räumt überdies, wie sich bei der abschließenden Kranzniederlegung am ehemaligen „Arbeits- und Internierungslager von SD und SS“ in Soldau zeigte, den Zeugnissen der Sachkultur einen stetig wachsenden Stellenwert ein.
Die wissenschaftliche Aussprache drehte sich um insgesamt neun Themen. Unter dem Leitmotiv „Können Bibliothekssignaturen Geschichten erzählen?“ stellte Daria Barow-Vassilevitch (Berlin) den Aufbau, die Entstehungs- und Bestandsgeschichte der Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek (RSB) Moskau vor. Dabei zeigte sich, dass alle abendländischen Handschriften, egal, ob sie als Einzelerwerbungen oder als Teil größerer Bestände wie Privatbibliotheken oder Nachlässe an die RSB gelangten, seit deren Gründung 1829 bis in die 1940er Jahre des 20. Jhs. in einem „ausländischen“ Erwerbungsfonds gesammelt wurden. Danach wurden abendländische Handschriften nach dem Vorbesitzprinzip auf entsprechende Provenienzfonds aufgeteilt und nur tatsächliche Einzelerwerbungen weiterhin in Nachfolger-Erwerbungsfonds gesammelt. Je nachdem, mit welcher Art der Signatur man zu tun hat, kann man deshalb Rückschlüsse auf die Erwerbungszeit, manchmal auch auf das Erwerbungsgebiet ziehen. Stücke aus Preußen und dem südlichen Ostseeraum (Pommern, Mark Brandenburg) sind hiernach im Altbestand am ehesten in den Provenienzfonds 68 (Generalstab) und 256 (Rumjancev) zu finden. Unter den jüngeren „kriegsbedingt verlagerten“ Erwerbungen sind vor allem der „alte“ Erwerbungsfonds 183 mit den Nummern um 3000 sowie die Nachfolger-Erwerbungsfonds 218, 722 und 743 hervorzuheben. Als neuester, in Bearbeitung befindlicher Fonds sei schließlich noch der Provenienzfonds 943 (Königsberg) genannt. Viele der Fonds sind bereits heute elektronisch mit Hilfe des kyrillischen Buchstaben für F + Fondsnummer in den Onlinekatalogen der RSB aufrufbar, andere hingegen nur mit Hilfe bibliotheksinterner Hilfsmittel recherchierbar.
In der Sektion „Vom Krieg gegen die Heiden zu Konflikten mit den Andersgläubigen“ ging es um zwei neue Forschungsvorhaben. Krzysztof Kwiatkowski (Toruń) benannte, nicht zuletzt unter den Aspekten „Normierung“ und „mentalität“, insgesamt sechs Forschungsfelder, die es künftig für das Thema „Stadtbürger in Waffen – Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der militärischen Aktivität der preußischen Städte vom 13. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts“ zu beackern gelte.
Sven Tode (Hamburg) näherte sich der „Reformation in den kleinen und mittleren Städten Westpreußens – Formen der Bewältigung religiöser und sozialer Konflikte im 16. Jahrhundert“ vor allem mit Blick auf Kooperationen und verschiedene Arten des pragmatischen Zusammenlebens der Stadtbürger. Als Beispiele hierfür nennt er Gottesdienste in Simultankirchen und Gottesdienste der Protestanten in Rathäusern, nach durch die Krone erzwungene Rückgaben von Gotteshäusern an die katholische Kirche. Auch vertragliche Übereinkünfte zwischen Stadträten, katholischen und protestantischen Geistlichen und Gemeinden zeigen eine Rationalisierung von Konfliktbewältigung auf. Die Erforschung der reformatorischen Bewegungen in den kleinen und mittleren Landstädten lässt das Zusammenleben zwischen den Konfessionen in dem notwendigen Miteinander des Alltags in einem unmittelbaren Licht erscheinen, als dies in den dominierenden Städten Danzig, Thorn und Elbing der Fall gewesen sei. Es gelte, die These von Małłek eines prägenden preußisches Bewusstseins, das stärker als konfessionelle Unterschiede gewirkt habe, zu überprüfen. Auch das Zusammenspiel zwischen ländlich geprägten urbanen Siedlungen zu ihrem dörflichen Umfeld, die Durchdringung religiöser Diskurse, die Kirchenökonomie sowie nationale und interreligiöse Interdependenzen gelte es zu erforschen.
Die Sektion „Neue Wege, neue Fragen – die Erschließung von Quellen zur Wirtschafts- und Finanzgeschichte des Preußenlands im Spätmittelalter“ widmete sich neuen Methoden der Quellenerschließung und Quellenbenutzung mit Hilfe neuer elektronischer Recherchewege, von Datenbanklösungen und Kartierungstechniken, die im Internet angeboten und genutzt werden (könnten). Diese Sektion wurde von drei Nachwuchswissenschaftlern der Universität Hamburg bestritten und von einem weiteren Nachwuchswissenschaftler (Alexander Baranov, Berlin) moderiert.
Sebastian Kubon stellte den Microblogging-Dienst „Twitter“ als Medium auch für die Regestenpublikation von Quellen des Deutschen Ordens vor. Als Quellengrundlage dienen die älteren Briefregister des Deutschen Ordens (Ordensfolianten 2a, 2aa, 2c, 3, 5, 6, 8-11). Es handelt sich hierbei um ein Pilotprojekt, bei dem ein Medium, das vorwiegend der schnellen Kommunikation dient, alternativ als frei zugänglicher Contentspeicher genutzt wird. Der entsprechende Account @RBDOdig befindet sich im Aufbau und wird sukzessive mit Datensätzen befüllt. Der Vorteil einer Benutzung von Kurzregesten mit Hilfe von Twitter liegt hiernach in der unkomplizierten Handhabung und der schnellen, von überall her möglichen, aber wegen der Begrenzung der Zeichen notwendigerweise oberflächlichen Vorrecherche in Datensätzen, die der Öffentlichkeit sonst erst nach längerer Zeit zur Verfügung stünden. Die Benutzung von konkreten Abkürzungen, wie zum Beispiel HM für Hochmeister oder KP für König von Polen, für die variablen Aussteller und Empfänger oder der Abkürzungen 1393.12.27 für ein Datum bedarf dabei sicher noch weiterer Ausgestaltung (etwa einer Abkürzungsliste auf einer stabilen Internetseite). Hier muss die praktische Nutzung weiteren Bedarf und Lösungsmöglichkeiten zeigen.
Cordula Franzke erläuterte am Beispiel der Projektergebnisse zur Edition der Wirtschaftsführung untergeordneter Amtsträger des Deutschen Ordens (um 1450) neben den konventionellen Publikationsmitteln, wie Print on Demand und kostenfreiem Download der PDF, die Auszeichnung des Editionstextes in der Metasprache XML (Extensible Markup Language), ausgezeichnet mittels TEI (Text Encoding Initiative) und lizenziert durch eine Common Creative Lizenz unter Open Access Bedingungen. Damit ist die Weiternutzung des digitalen Editionstextes für andere Forschungsvorhaben gewährleistet. Die Auszeichnung des Editionstextes mittels standarisierter Tags der TEI ermöglicht neben der Volltextwiedergabe die Erzeugung von Indices für Orts- und Personenangaben in HTML, daneben XQuery-Abfragen für eine quantitative Analyse von in den Amtsbüchern vermerkten Waren, wie zum Beispiel Honigtonnen. Durch Nutzung der XML/TEI-Syntax ist eine Verknüpfung des Editionstextes mit weiteren Quellenkorpora und hierüber eine übergreifende Suche zu Personen und Ämtern hinsichtlich Amtszeiten und Amtssitzen denkbar. Idealiter ist die Verknüpfung des digitalen Editionstextes mit einem digitalen Faksimile mittels eines PURL (Persistent Uniform Resource Locator), bereitgestellt durch das jeweilige Archiv, erstrebenswert, wodurch die Erschließungs- und Auswertungszusammenhänge virtuell konsistent hergestellt werden können.
Joachim Laczny machte schließlich anhand eines Itinerars (das heißt Reiseweg bzw. Kette von Aufenthaltsorten) mit der Vorgehensweise sowie mit Vor- und Nachteilen beim Einsatz von Historical Geographical Information Systems (GIS) bekannt. Aus digitalen Urkundenbüchern seien Datums- und Ortsangaben in eine Datenbank extrahierbar, welche nach der Georeferenzierung auf Hyperkarten (Google Earth) mit entsprechender Verlinkung (PURL) zu Regestenwerken angezeigt werden könnten. Daneben sei – entsprechend der Forschungsfrage – eine Generierung aus einem Historical GIS nicht nur von statischen und animierten Karten, sondern auch von statistischen Auswertungen möglich. Die kartografische Darstellung (web-mapping) von Ortsangaben aus mit TEI (XML) ausgezeichneten Quellentexten unter Nutzung der Variable <place> beschloss die Ausführungen, und zwar am Beispiel des im Beitrag zuvor vorgestellten Quellenmaterials zu den unteren Amtsträgern des Deutschen Ordens, um damit die neuesten Entwicklungstendenzen in der Erschleißung und Auswertung von Quellen aufzuzeigen. Als maßgebliche Bedingungen für den aufwändigen Einsatz von GIS wurden vor allem vorhandene Kenntnisse um GIS-Lösungen sowie eine gezielt formulierte Fragestellung hervorgehoben.
Der Mehrwert des Einsatzes eines Historical GIS wurde den Tagungsteilnehmern erneut vor Augen geführt, als im Vortrag von Kwiatkowski eine animierte Karte die Verstädterung des Ordenslandes Preußen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert zeigte. Die graphisch gelungene Darstellung der Vorgänge um die Schlacht bei Tannenberg / Grunwald, die im Interaktiven Museum zur Geschichte des Deutschen Ordens in Soldau auf einen Tisch projiziert wird (und dabei die mittlerweile auch in Polen akzeptierten Forschungsergebnisse von Sven Ekdahl zur Rolle der Litauer berücksichtigt), beruht ebenfalls auf einer computergenerierten und kartographischen Auswertung. Mit ihr wurden die Tagungsteilnehmer im heutigen Działdowo bekannt.
In der zweiten Sektion über „Die Rolle von Schriftgut und Pflanzen für die Klimageschichte des Preußenlandes – Hermeneutik und Modulierung als Methoden der Quellenauswertung“ befasste sich Piotr Oliński (Toruń) mit „Klimadaten in preußischen Quellen aus dem 15. und 16. Jahrhundert“. Er benutzte dazu eine gleichsam serielle Auswertung erzählender Quellen, die er mit Hilfe einer an mehrere Kriterien gebundenen Zuweisung von Wertigkeiten zunächst tabellarisch erfasste, sodann graphisch aufbereitete und schließlich als Klimahistoriker interpretierte. Als wichtigstes Ergebnis bleibt ein Abweichen des Mikroklimas im Preußenland von der allgemeinen west- und mitteleuropäischen Klimaentwicklung, so wie sie von Alexandre, Pfister und Glaser postuliert wird, in der Mitte des 15. Jahrhunderts festzuhalten. Es gab hiernach in Preußen eine Reihe von etwa zehn bis zwanzig warmen oder besonderes warmen Sommern. Oliński wies aber auch auf eine gewisse Subjektivität bei der Zuweisung von Wertigkeiten bei der modularen Auswertung erzählender Quellen hin.
In der Diskussion um ein neues Forschungsvorhaben, das sich in Thorn künftig erneut der Klimageschichte widmen soll, wurde an den Falkenfang in Preußen als mögliches Instrument zur Wetterbestimmung in der Vergangenheit erinnert. Die Schwankungen der ehemals im Herbst an der Ostsee bei Rositten (Rybatschi) gefangenen Falken erlaubten möglicherweise Rückschlüsse auf wetterbedingte Zu- und Abnahmen in den subpolaren Populationen der Moorschneehühner – also der Hauptnahrungsgrundlage von Gerfalken.
Ania Fílbrandt-Czaja (Toruń) hat als Biologin bereits seit den 1990er Jahren Zusammenhänge zwischen historischem Pflanzenbewuchs, Landschaftsgestalt und menschlichen Einflüssen in der Tucheler Heide und anderen Landschaften Preußens und Polens untersucht. Sie zog hierfür sowohl experimentelle Versuchsanordnungen und numerische Verfahren als auch die Auswertung von Indikatoren, die sich an historischen und aktuellen Landschaftskarten ablesen lassen, heran. In ihrem Vortrag über „Biological Methods of Reconstruction of Climate Change“ machte Filbrandt-Czaja anhand ganz verschiedener Zugangswege mit Klimamerkmalen aus der Vergangenheit in Preußen, Polen und dem Baltikum bekannt. Als Zugänge stellte sie ebenso die Dendrochronologie vor wie die Analyse von Pflanzenkonfigurationen und den Nachweis von pflanzlichen bzw. tierischen Klimaindikatoren. Als Verifikation von Klimahypothesen dienten den Biologen (wie anderen Naturwissenschaftlern) vor allem Übereinstimmungen zwischen Graphiken, Tabellen oder Kurven, die aus Einzeluntersuchungen hervorgingen. Die von der Vortragenden genutzte hermeneutische Vorgehensweise sei hingegen unter Naturwissenschaftlern eher selten zu finden.
Christofer Herrmann (Danzig / Gdańsk) berichtete über „Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel“. Das gleichnamige Vorhaben (gefördert aus Mitteln der BKM) wurde gerade mit einer zweibändigen Katalogausgabe abgeschlossen. Herrmann stellte weiterhin ein im Sommer beginnendes DFG-Forschungsprojekt, das die Erstellung einer umfangreichen Baumonografie des Hochmeisterpalastes auf der Marienburg zum Ziel hat, vor. Herrmann verwies außerdem auf ein gerade laufendes archäologisches Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Göttingen und Danzig. Es handelt sich um die Ausgrabung einer spätmittelalterlichen Kleinstadt in Alt-Wartenburg (Barczewko) im Ermland bei Allenstein (Olsztyn). Die Siedlung existierte nur etwa 25 Jahre lang und wurde 1354 bei einem Überfall der Litauer zerstört.
Im Abendvortrag befasste sich Andreas Kühne (München) mit dem Thema „Der erste Copernicaner und seine Schriften zur heliozentrischen Astronomie. Georg Joachim Rheticus (1514-1574) im Ermland und in Krakau“. Der Astronom und Astrologe Rheticus erweist sich dabei als durchaus eigenständiger Beobachter und Denker. Sein Lebenslauf verlief wegen homoerotischer Neigungen nicht immer geradlinig und führte den vielseitig begabten Mathematiker, Astronomen, Theologen, Kartografen und Mediziner gleich an mehrere mitteleuropäische Universitäten, darunter das lutherische Wittenberg, ehe er im ungarischen (heute slowakischen) Kaschau starb. Sein größtes Verdienst für die Wissenschaftsgeschichte liegt (außer in der Vervollständigung der trigonometrischen Tafeln) in der Verbreitung des copernicanischen Weltsystems. Ihr dienten die Narratio Prima de libris revolutionum Copernici von 1540/41 ebenso wie die Ephemerides Novae von 1550. Es war niemand anders als Rheticus, der Copernicus bei einem Aufenthalt in Frauenburg zwischen 1539 und 1541 zur Herausgabe seines Hauptwerks De revolutionibus orbiu coelestium (1543) bewegte.
Die dritte Sektion stand unter dem Titel „Tradierte oder innovative Geschichtsbilder? – Deutsche und Polnische Forschungsansätze zum Preußenland in Neuzeit und Moderne im Vergleich“. Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) setzte sich unter dem Titel „Deutsch-polnische Forschungsperspektiven zur preußischen Geschichte der frühen Neuzeit“ zunächst kritisch mit der Frage nach möglichen Geschichtsbildern auseinander. In seinen Augen wirkt die historische Forschung kaum noch auf gängige Geschichtsbilder ein. Die Frage nach Geschichtsbildern, die den Historiker selbst möglicherweise beeinflussen, verfolgte er hingegen nicht. Es lohne sich vielmehr, neue Forschungslinien aufzuweisen. Zu ihnen zählten vor allem grenzüberschreitende Untersuchungen, etwa zu Adel, Religionsgemeinschaften und Konfessionen, aber auch zu bleibenden Rechtsgewohnheiten nach einem Wechsel des Landesherrn. Dies könne heute nur in deutsch-polnischer (resp. deutsch-polnisch-litauisch-russischer) Kooperation geschehen, wobei wechselseitig die besonderen Leistungen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der jeweiligen Historiographien rezipiert werden müssten. In der deutschen Forschung zu vermeiden seien eine zu zentralstaatliche, auf die Hohenzollernmonarchie ausgerichtete Perspektive sowie eine alleinige Betonung der Traditionslinie Deutscher Orden – Brandenburg-Preußen – Ostpreußen.
Jörg Hackmann (Stettin / Szczecin) befasste sich mit „Deutsche(n) und polnische(n) Forschungsperspektiven auf die Geschichte Pommerns, West- und Ostpreußens im 19. und 20. Jahrhundert“. und beschreibt als Grundproblem der Forschung die Überwindung überkommener nationalgeschichtlicher Abgrenzungen. Zwar hatte die HK OWP dazu schon zu Beginn der Deutsch-polnischen Schulbuchgespräche in den 1970er Jahren beigetragen und auch frühzeitig polnische Historiker aufgenommen. Auf der anderen Seite hat sie allerdings ausgeblendet, dass der Schwerpunkt der historischen Forschung sich bereits in den 1950er Jahren nach Polen verlagert hatte. Der Versuch, ein eigenes Handbuch zu erstellen, ist für das 20. Jahrhundert missglückt. Insofern stellt sich als Hauptproblem, welche Rolle die HK OWP für aktuelle Forschungsprojekte spielen kann. Diese kann nicht mehr in der Darstellung vermeintlich deutscher Sichtweisen bestehen, sondern vor allem in transnationalen oder verflechtungsgeschichtlichen Fragestellungen. Hier besteht noch umfangreicher Diskussions- und Forschungsbedarf, die HK OWP kann hier eine Rolle als Impulsgeber spielen.
Dariusz Makiłła erinnerte in seinem Vortrag über „Die rechtshistorischen Forschungen zum Preußenland in einem Winkel der Geschichtsschreibung“ zunächst an einige Verfassungsentwicklungen bei der Umwandlung des Ordenslandes Preußen in ein Herzogtum unter der Oberherrschaft des polnischen Königs. So wurde beispielsweise das Kulmer Recht durch das Lehnrecht als Grundlage des neuen Ständestaats abgelöst. Ein neues Landrecht trat dann im ausgehenden 16. Jahrhundert in Kraft. Das 19. Jahrhundert war schließlich durch die Polnischen Teilungen und die voneinander abweichende Gesetzgebung der drei verschiedenen staatlichen Obrigkeiten (Preußen, Österreich, Russland) geprägt. Als Besonderheit des Preußenlandes steche hervor, dass hier oft – vorsichtig formuliert – ein Zivilisierungsvorsprung zu verzeichnen sei. Die Analyse normativer Quellen erfasse aber viele Nuancierungen der vergangenen Wirklichkeit nicht und zeichne deshalb nur ein einseitiges Bild. Der Rechts- und Verfassungshistoriker des ehemaligen Preußenlands schreibe ohnehin so lange aus einem Winkel der Geschichtsschreibung, wie keine umfassende Synthese der vorhandenen Forschungsergebnisse vorliege. Diese aber bilde nach wie vor ein echtes Forschungsdesiderat.
Drei weitere Vorträge drehten sich um Themen aus der Zeitgeschichte. Joachim Zdrenka (Grünberg / Zielona Góra) sprach in seinem Vortrag über „Reichsdeutsche polnischer Zunge“. Grundlage seiner Ausführungen waren umfangreiche statistische Analysen zur Bevölkerung des ehemaligen Landkreises Flatow in Pommern von 1900 bis 1945, die er in den letzten sieben Jahren anhand der einschlägigen Standesamtsregister, von Grabsteinen auf Friedhöfen und weiteren Quellen vorgenommen hat. Sie erlauben Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung sowie zu Verschiebungen zwischen Deutschen und Polen als ethnischen Hauptgruppen bzw. Protestanten, Katholiken und Juden als dort ansässigen Religionsgemeinschaften von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Hiernach fielen von rund 30.000 Wehrmachtsangehörigen ca. 10.000 Personen allein im Zweiten Weltkrieg, zumeist an der Ostfront, darunter zahlreiche Polen. Das entspricht knapp neun Prozent der damaligen Bevölkerung. Die jüdische Bevölkerung von Flatow umfasste zwischen 1900 und 1945 knapp 3000 Personen. Von ihnen wurden zwei Drittel Opfer der Shoa. In einem bewegenden Schlussresümee wies Zdrenka auf das Schicksal von Reichsdeutschen polnischer Zunge hin, zu denen er seine Familie und sich auch selbst zählt.
Janusz Piwowar und Piotr Rogowski (Warschau) berichteten über „Das Lager in Soldau in den Unterlagen der Geheimen Deutschen Staatspolizei in Zichenau / Schröttersburg“. Die Akten wurden in den 1980er Jahren von der ehemaligen Hauptkommission zur Untersuchung von Naziverbrechen in Polen, die beim Zentralarchiv des Innenministeriums angesiedelt war, ausfindig gemacht und bald nach 1998 in das Institut für Nationales Gedenken in Warschau überführt. Der Bestand bezieht sich auf Polen, Juden, Deutsche und Volksdeutsche, die im Bezirk Zichenau als arbeitsunwillig aufgegriffen wurden, zum Widerstand gehörten, aus Zwangsarbeitsstellen geflohen waren oder unerlaubt die Grenze zwischen dem Generalgouvernement und dem Deutschen Reich überschritten hatten und deswegen inhaftiert worden waren. Ein Teil von ihnen wurde für den Zeitraum von einigen Tagen oder Wochen festgehalten und dann wieder freigelassen, ein anderer Teil in Konzentrationslager überführt, ein weiterer Teil kam in Folge der schlechten Lebensbedingungen im Lager oder durch standrechtliche Erschießung ums Leben. Besonders bekannte Opfer kamen aus dem polnischen Klerus, unter ihnen befanden sich mit Julian Antoni Nowowiejski († 28. Mai 1941) und Leon Wetmański († 10. Oktober 1941) auch der Bischof und der Weihbischof von Płock. Das Lager diente nach Kriegsende als Durchgangslager für Polen, die aus den vormaligen Bezirken Schröttersburg und Zichenau ausgewiesen worden waren. Zudem verwendeten es die neuen Polizeibehörden als heimliche Internierungsstätte für politische Häftlinge, besonderes aus der so genannten Intelligenz.
Ruth Leiserowitz (Warschau) schilderte schließlich unter dem Titel „Das SS-Lager aus der Perspektive seiner Häftlinge“ die menschenunwürdigen Umstände, unter denen die Inhaftierten in das Lager gebracht wurden, hernach dort lebten und zu überleben suchten, bis sie in ein Konzentrationslager überführt wurden. Die Berichte entstammen zumeist Befragungen jüdischer Zeitzeugen und führen die Grausamkeit der beteiligten Chargen in allen Einzelheiten vor Augen. Der Hinweis auf spontane Brotgeschenke, die die Soldauer Bevölkerung einigen Häftlingen bei ihrer Überführung machte, vermag die vielfachen Schikanen und die gezielt eingesetzte Brutalität des Lageralltags kaum aufzuwiegen. Ihr fielen neben zahlreichen Juden auch viele geistig und körperlich Behinderte, so genannte Zigeuner, polnische Kleriker sowie Homosexuelle zum Opfer. Die Berichte zeigen, dass das Lager von September 1939 bis Ende Januar 1945 nicht nur von Sicherheitsdienst und Geheimer Staatspolizei, sondern auch von der Schutzstaffel umfassend genutzt wurde.
Stellt man abschließend die Frage, welche neuen Forschungsansätze zum Preußenland sich aus der Perspektive der Veranstalter aus den genannten Vorträgen ergeben, so erscheinen für die HK OWP vor allem die neuen elektronischen Instrumente für die Quellenerschließung und Quellenauswertung als zukunftsträchtig. Sie ebnen bisher unbekannte Wege sowohl für die Visualisierung als auch für die numerische und die modulare Erforschung des Preußenlands, sei es mit Blick auf die Landschaft, auf die Bevölkerungszusammensetzung oder auf den Klimawandel. Auch kurz- und mittelfristige historische Vorgänge lassen sich auf diese Weise erforschen oder zumindest veranschaulichen. Die Einbeziehung von Datenbanken und neuen Programmierungstechniken in die herkömmliche Quellenerschließung und Quellenauswertung eröffnet zudem den Zugang zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Natur- und den Ingenieurswissenschaften. Die Tatsache, dass künftig der gesamte Forschungszusammenhang von der Digitalisierung und Transkription der Schriftquellen über die Bereitstellung von Daten für eine vielgestaltige Weiterverwendung bis zur gedruckten Interpretation durch den Forscher im Internet abgebildet werden kann, erleichtert künftig sicher auch die Verwertung durch andere Wissenschaften und in anderen Forschungszusammenhängen.
Wie die Beispiele zur Architekturgeschichte und zur Stadtarchäologie des Preußenlands zeigten, kann die hermeneutische Vorgehensweise der Geisteswissenschaften, insbesondere der Historiker und der Philologen, anderen Wissenschaften auch in anderer Weise bei der Lösung komplexer Fragestellungen zur Seite stehen. In Bezug auf das Preußenland als historischem Raum ist vor allem der Wandel in den (rechtlichen, konfessionellen, politischen und militärischen) Beziehungen zwischen Deutschen und Polen (aber auch der Beziehungen beider Ethnien zu den Litauern und den Russen) vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des zweiten Weltkriegs bedenkenswert. Als lange vergessene Forschungsperspektive rückte bei der Tagung außerdem die der jüdischen Bewohner ausdrücklich in den Blick.
Für die CV waren insbesondere die Beiträge zum 16. und zum 20. Jahrhundert von Interesse. Die Rezeption des heliozentrischen Weltbilds sowie die konfessionellen Veränderungen in Kleinstädten und auf dem Lande gehören zu ihren aktuellen Forschungsfeldern. Lehrreich für die CV dürften außerdem die mikrohistorischen und statistischen Beobachtungen der Zeithistoriker auf die mit Westpreußen benachbarten Regionen Pommern (Landkreis Flatow) und Ostpreußen (Lager in Soldau) sein.
Die Tagung endete mit einer Kranzniederlegung an dem Mahnmal, das in unmittelbarer Nähe des ehemaligen „Arbeits- und Internierungslagers von Sicherheitsdienst (SD) und Schutzstaffel (SS)“ an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors erinnert. Kurze Grußworte des Bürgermeisters von Działdowo, Grzegorz Mrowiński, sowie der beiden Vorsitzenden von der HK OWP, Arno Mentzel-Reuters, und der CV, Sven Tode, erinnerten an den Stellenwert historischen Gedenkens sowie der christlich-jüdischen und deutsch-polnischen Versöhnung.
An der Tagung nahmen rund sechzig Personen, darunter zwanzig Referenten und Moderatoren, aus acht Ländern im Alter von knapp dreißig bis etwa achtzig Jahren teil. Der Großteil der Beteiligten war zwischen vierzig und sechzig Jahre alt. Auf eine Frau kamen fünf Männer. Nicht nur im Rahmen von vier inhaltlich abgegrenzten Sektionen und fünf Einzelvorträgen, sondern auch bei den Mahlzeiten in der Thorner Altstadt bzw. einem Hotel in Soldau, der Mitgliederversammlung der HK OWP bzw. der zweistündigen Freizeit für Nichtmitglieder, einem Abendempfang in Thorn, der Busfahrt nach Soldau, dem Besuch eines Ehrenmals an die Opfer des Zweiten Weltkrieges, der Besichtigung des Interaktiven Museums zur Geschichte des Deutschen Ordens und der Besichtigung des Schlosses (eigentlich der Niederlassung eines Pflegers) des Deutschen Ordens, dem Mittagsbüffet und der abschließenden Kranzniederlegung am ehemaligen „Arbeits- und Internierungslager von Sicherheitsdienst (SD) und Schutzstaffel (SS)“ in Soldau kam es zu zahlreichen persönlichen Begegnungen und fachlichen Gesprächen.
Bei der Mitgliederversammlung der HK OWP wurden am 15. Mai 2015 sechs neue Mitglieder (je drei aus Deutschland bzw. aus Polen) zugewählt. Zudem wurde fünf verstorbener Mitglieder – darunter der Historiker Carl Walther Hubatsch (* 1915 in Königsberg, † 1984 in Bonn) und der Archivar Friedrich Wilhelm Benninghoven (* 1925 in Berlin, † 2014 in Berlin) – gedacht.
Auf Anregung des Tagungsteilnehmers Reinhard Wenzel, zugleich Vorsitzender des „Vereins für Familienforschung für Ost- und Westpreußen“ (VF OWP) und ehemaliger Bewohner von Soldau, begann der zweite Tagungstag mit dem Besuch der nordnordöstlich von Soldau in Kämmersdorf (Komorniki) gelegenen Erinnerungsstätte an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Das aus sozialistischer Zeit stammende Denkmalensemble wird seit den 1990er Jahren um ein schlichtes Holzkreuz und einen neu formulierten Gedenkstein ergänzt.
Ein Teil der Teilnehmer besichtigte am 16. Mai 2015 außerdem das Interaktive Museums zur Geschichte des Deutschen Ordens, das im ehemaligen Rathaus im Ortskern von Soldau (Działdowo) untergebracht ist. Das neue Museum bringt den Deutschen Orden seinen jungen und älteren Gästen mittels moderner, teilweise sogar dreidimensionaler Simulationstechnik, vieler spielerischer Elemente sowie zahlreicher solide recherchierter, dreisprachiger Texte (Polnisch, Deutsch, Englisch) nahe. Seit der Eröffnung am 13. August 2014 lockte das Museum bereits mehr als 23.000 Besucher an.
Möglicher Anziehungspunkt für Wochenendausflügler aus Warschau wie für Bus-, Bahn- und Autotouristen aus der näheren und weiteren Umgebung könnte auch das ehemalige Pflegeamt des Deutschen Ordens werden, das nur fünf Minuten von der Innenstadt entfernt liegt. Die heutzutage als Schloss (Zamek) bezeichnete Ruine besteht aus einem erhaltenen mehrgeschossigen Flügel (mit Remter und Kapelle), einem in den 1990er Jahren angefügten, inzwischen von der örtlichen Stadtverwaltung genutzten weiteren Seitentrakt sowie dem Eingangstor. Ein Teil der Kelleranlagen ist ebenfalls archäologisch freigelegt und gesichert.
Grzegorz Mrowiński ließ es sich als Bürgermeister und ausgebildeter Historiker nicht nehmen, persönlich eine weitere Gruppe interessierter Tagungsteilnehmer durch die Schlossanlage zu führen. Er wurde dabei durch den Architekten Wojciech Wolkowski begleitet, der gleichzeitig als Übersetzer fungierte. Ein Team um den Bürgermeister hat sich die Weiterentwicklung der Stadt auf die Fahnen geschrieben. Zu diesem Team gehört mit Franciszek Skibicki auch ein im Ort ansässiger Fachbuchautor.
Grußworte gab es außer von Seiten des soeben genannten Bürgermeisters auch von Marek Rubnikowicz, dem Beauftragten für die Museen in Thorn, von Andrzej Radzimiński, dem Prodekan der Philosophischen Fakultät, und von Wiesław Sieradzan. dem Direktor des Historischen Instituts der Nicolaus Copernicus-Universität. Außerdem sprachen Arno Mentzel-Reuters (München) als Vorsitzender der HK OWP und Sven Tode (Hamburg) als Vorsitzender der CV. Es wurden nicht nur in Thorn, sondern auch in Soldau außerdem Buchgeschenke ausgetauscht. Alle Teilnehmer erhielten ein Exemplar des jüngst erschienenen Bildbands von Franciszek Skibicki mit dem Titel „Działdowo na starej pocztówce“ (übersetzt: „Soldau auf alten Postkarten“), während Udo Arnold (Ehrenvorsitzender der HK OWP) mehrere Bücher aus den Beständen der HK OWP an mehrere Referenten und Reinhard Wenzel (Vorsitzender der VF OWP) drei Exemplare der „Stadtgeschichte von Soldau“ von Fritz Gause an den Bürgermeister von Działdowo bzw. an Professor Makiłła, der in diesem Ort ansässig ist, überreicht. Für die Vorbereitung der Tagung vor Ort sind die tatkräftige Vorbereitung und Mithilfe der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Thorn (Towarzystwo Naukowej w Toruniu), des Bürgermeisters von Działdowo und seines Teams sowie der beiden Professoren Roman Czaja (Thorn / Toruń) und Dariusz Makiłła (Warschau) besonders hervorzuheben.
Gedankt sei auch allen Referenten, die mit ihrer freundlichen Durchsicht des Textes zum Gelingen des Tagungsberichtes beigetragen haben. Die gedruckte Fassung des Tagungsberichts erscheint im „Preußenland“. Bei den Herausgebern des „Preußenlands“ liegen auch alle Nutzungsrechte. Für Nachfragen steht zur Verfügung: Marie-Luise Heckmann, E-Mail: heckmann.torun@web.de